Dimzēni, und bald zu Hause

Lange habe ich mich nicht gemeldet, hier auf meinem Blog. Es gab auch wirklich nicht viel zu erzählen, war eben Lockdown und Novemberwetter. Durch den Titel von diesem Blogeintrag können sich einige von euch schon denken, dass irgendwas nicht passt. Es ist zwar bald Weihnachten, aber bei den Jesuit Volunteers ist ein Besuch zu Hause während des Freiwilligendienstes nicht vorgesehen.

Ich habe mich entschieden, meinen Freiwilligendienst frühzeitig zu beenden und noch vor Weihnachten zurück in Deutschland zu sein. Zu dieser Entscheidung haben viele kleinere und größere Dinge geführt, die nicht so liefen, wie sie sollten und mir das Ankommen und Wohlfühlen hier sehr erschwert haben. Generell kann ich sagen, dass ich sowohl privat als auch in der Arbeit viel zu wenig Zeit mit Menschen verbringen konnte und viel alleine war. In der Arbeit hat mir außerdem eine Anleitung gefehlt, ich war sehr auf mich allein gestellt. Es hat sich keine richtige Routine ergeben und allgemein konnte ich mich nicht richtig einleben, da es dort meiner Meinung nach einfach ein bisschen an Teamwork und Gemeinschaftsgefühl unter den Kollegen mangelt. Vielleicht eignet sich der Ort einfach generell nicht ganz für einen internationalen Volunteer. Da ich die erste Freiwillige in dieser Einsatzstelle bin, war es für alle neu und vielleicht nicht ganz durchdacht.

In meiner Wohnung habe ich mir eigentlich viel Gemeinschaft vorgestellt, und um alleine in einem neuen Land Fuß zu fassen, ist das meiner Meinung nach auch notwendig. Ich fand es also super, dass die Gemeinschaft bei JV so einen großen Stellenwert hat. Umso enttäuschender war es, als ich gemerkt habe, dass in unserem Wohnheim absolut kein Gemeinschaftsleben stattfindet. Ich habe auch versucht, das vielleicht ein bisschen zu ändern – in unserem kargen Wohnzimmer steht jetzt zum Beispiel ein gelbes Sofa, eine Stehlampe und ein Couchtisch. Aber das hat natürlich auch nicht den großen Unterschied gemacht, im Gegenteil: irgendwann hab ich dann noch herausgefunden, dass gar kein Besuch erlaubt ist in unserem Wohnheim. Mein Plan, mal meine lettische Freundin auf einen Kaffee einzuladen, war damit also auch wieder dahin.

Ich hatte absolut nicht in Erwägung gezogen, meinen Freiwilligendienst abzubrechen, trotz der Schwierigkeiten und des Lockdowns, der ja dann noch obendrauf kam. Tatsächlich hat mein Mentor mir vorgeschlagen, abzubrechen (obwohl ich mir von ihm Unterstützung erhofft habe). Ich habe ihm daraufhin erklärt, dass ich weitermachen und optimistisch bleiben möchte. Doch dann war die Luft eine Woche später plötzlich endgültig raus, und mein Bauchgefühl hat mir gesagt, dass es genug ist. Keine Energie mehr übrig, keine Motivation und Neugier. Einfach alles aufgebraucht. Ich hatte so viel investiert, um meine Situation besser zu machen und das Beste raus zu holen, aber sehr wenig zurück bekommen, um meine Energie wieder aufzuladen. Natürlich fühlt sich an so einem Tiefpunkt alles nochmal schlimmer und auswegloser an, als es sowieso schon ist. Deshalb habe ich mir eine Auszeit genommen, um über alles nachzudenken und bin so schnell wie möglich aus der Stadt abgehauen.

Schwester Hannah kennt die Besitzer einer kleinen Farm namens Dimzēni auf dem Land, ca. 70km südwestlich von Riga. Als ich ihr meine Situation erklärte, rief sie abends um 21 Uhr bei Inga an, die mit ihrem Mann, ihren Kindern und zwei Freunden in Gemeinschaft auf der Farm lebt. Zehn Minuten später war geklärt, dass ich am nächsten Tag nach Dimzēni fahren werde, für ein paar Tage, oder auch länger. Ich wurde am Bahnhof in Jelgava abgeholt, und von dort war es noch ungefähr eine halbe Stunde Fahrt bis zum Bauernhof. Es war zwar sowieso schon dunkel als ich mit dem Zug ankam, wurde aber auf der Fahrt immer noch dunkler, je weiter wir aus der Stadt raus und in die Pampa fuhren. Ich konnte nur schemenhaft die Bäume und Felder erkennen. Obwohl ich nicht wirklich wusste, wo es hingeht und die Leute überhaupt nicht kannte, hat es sich unfassbar gut angefühlt irgendwo ins nirgendwo zu fahren, wo Natur, Tiere und mehr Gemeinschaft auf mich warten.

Jetzt bin ich schon seit einer Woche auf Dimzēni. Ich habe zum ersten Mal Ziegen gemolken und gehütet, und deren Milch steht jeden Morgen auf dem Frühstückstisch. Auch sonstige Nahrungsmittel werden hier zum größten Teil selbst hergestellt und angebaut. Die Familie möchte den traditionellen lettischen Lebensstil auf dem Land aufrecht erhalten, und Menschen die Möglichkeit geben, diesen zu erleben. In dem sehr alten, großen Bauernhaus wird nur mit Kachelöfen geheizt und in der Küche gibt es kein fließend Wasser. Außer dem sehr einfachen und bewussten Lebensstil spielen Gemeinschaft, Glaube und Musik eine große Rolle. In den Sommermonaten verbringen hier viele junge Freiwillige ihre Zeit und arbeiten auf dem Hof mit, aber auch sonst steht die Tür immer Gästen offen. Außer den Ziegen wohnen hier ein Pferd, drei Katzen (Stripiņa, Čaks und Norris) und ein Hund namens Lapsa (lett. Fuchs).

Die Familie hat mich sofort in die Gemeinschaft aufgenommen, so als würden wir uns schon ewig kennen. Ich habe mich von Beginn an wohl gefühlt und es war ziemlich schnell klar, dass sie mich auch länger hier behalten würden. Also vielleicht auch meine restlichen 9 Monate vom Freiwilligendienst? Mir war und ist auf jeden Fall klar, dass ich nicht zurück möchte nach Riga. Ich habe keine Energie, dort nochmal irgendwas Neues anzufangen, eine neue Arbeit oder eine neue WG. Und damit es mir besser geht, müsste sich beides ändern. Ich kann trotz allem sagen, dass ich dort viele sehr liebe Menschen kennen lernen durfte, und mit einigen werde ich bestimmt Kontakt bleiben. Viele haben versucht, mich zu unterstützen, auch das Team von Jesuit Volunteers natürlich – aber manchmal klappt es trotzdem einfach nicht.

Meine ersten Tage hier auf der Farm hab ich also den Gedanken gewälzt, ob es in Riga wohl nicht funktionierte, damit ich jetzt hier auf der Farm lande und dort in Gemeinschaft einer lettischen Familie meinen restlichen Freiwilligendienst verbringe. Doch auch hier müsste ich natürlich wieder versuchen, mein eigenes Leben aufzubauen. Vor allem wenn man in einer größeren Gemeinschaft lebt und viel Zeit miteinander verbringt, ist das wichtig, ansonsten geht man sich irgendwann auf die Nerven. Da hier aber der Winter gerade mal beginnt und wir uns irgendwo im Nirgendwo befinden, wäre das schwierig und auch mein Bauchgefühl sagt mir ganz eindeutig, dass das jetzt nicht das Richtige ist. Ich werde aber auf jeden Fall hierher zurück kehren, hab den Ort und die Menschen schon lieb gewonnen. Spätestens zum Johannisfest (Jāņi – das lettische Mittsommerfest) am 23. Juni würde ich gerne wieder hier sein.

Mana darbība – meine Arbeit

Jetzt wird es doch langsam mal Zeit, dass ich ein bisschen über meine Arbeit berichte. Ich arbeite hauptsächlich im Zentrum Solis Augšup, ein multifunktionales Zentrum für Kinder mit Autismus. Dort werden verschiedene Therapien angeboten sowie Sozialisierungsgruppen und Freizeitaktivitäten. Außerdem gehören monatliche Ausflüge für Kinder & Jugendliche mit und ohne Behinderung zu meinem Arbeitsalltag. Diese werden von Jauniešu pastorālā māja organisiert, eine Gruppe von jungen Leuten Anfang 20, die sich ehrenamtlich für Kinder mit besonderen Bedürfnissen engagiert.

In Solis Augšup werden zum Beispiel Ergo-, Physio- oder ABA-Therapie angeboten. Bei der ABA-Therapie (Applied Behavior Analysis oder angewandte Verhaltensanalyse) handelt es sich um eine Form der Psychotherapie, die hauptsächlich bei Kindern mit Autismus eingesetzt wird. Interessanterweise war und ist die ABA-Therapie sehr umstritten. Das liegt unter anderem am behavioristisch geprägten Ansatz. Bei der ABA-Therapie geht es darum, sozial erwünschtes und förderliches Verhalten aufzubauen und unerwünschtes, nicht förderliches Verhalten abzubauen. Dabei wird mit dem operanten Konditionieren, also dem Belohnungssystem, gearbeitet. Das bedeutet, wenn ein Kind erwünschtes Verhalten gezeigt hat, erhält es eine Belohnung, meist handelt es sich um Essen, Spielzeug oder Lob. So mancher ist der Meinung, dass durch die Therapieform den Kindern ihre Autonomie abgesprochen wird, dass es nur darum geht, das Kind gesellschaftsfähig zu machen und die Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden. Doch nicht nur der behavioristisch geprägte Ansatz ist der Grund für den umstrittenen Ruf der Therapieform. Als sie in den 1960er-Jahren entwickelt wurde, hat man als Bestrafung zum Beispiel mit Elektroschocks gearbeitet. Diese Methode wird heute jedoch natürlich nicht mehr angewendet. Ich war schon sehr erstaunt, als ich beim recherchieren auf die Umstrittenheit und viele Kritik an der Art der Therapie gestoßen bin, die eine sehr große Rolle in dem Zentrum spielt, in dem ich für das nächste Jahr mitarbeiten werde. Allerdings konnte ich (als Laie) bisher nichts an der Arbeit meiner dortigen Kollegen bemängeln. Es wird sehr wertschätzend mit den Kindern umgegangen und viel Wert auf eine möglichst gute Förderung gelegt. Auch auf die Bedürfnisse der Kinder wird geachtet. Nicht ohne Grund hab ich sehr schnell den Satz „Ko tu gribi?“ (Was möchtest du?) gelernt. 🙂

Bisher war die Teilnahme an den Sozialisierungsgruppen meine hauptsächliche Arbeit. Hier wird ebenfalls nach den Grundsätzen der ABA-Therapie gearbeitet. Die ABA-Therapeutin bestimmt therapeutische Ziele für die Kinder und erstellt dann einen Plan mit passende Spielen, Tätigkeiten und Aufgaben, um die Kinder optimal in ihrem Sozial- und Kommunikationsverhalten zu fördern. Die Gruppen bestehen aus 4-6 Kindern, zu Beginn begrüßen sie sich gegenseitig und erzählen kurz, wie es ihnen geht und was sie heute gemacht haben. Das ist bereits die erste Sache, die manchen Kindern sehr schwer fällt. Deshalb kriegen sie visuelle Unterstützung in Form von verschiedenen Gefühlen, die auf einer laminierten Seite mit Wörtern und Gesichtsausdrücken dargestellt sind. Wenn sie erfolgreich an Spielen und Aktivitäten teilgenommen haben, gibt es als Belohnung einen Smiley. Ebenfalls immer Teil der Sozialisierungsgruppe ist das Kochen. Es werden Kekse oder Muffins gebacken, Sandwiches oder Pizza gemacht. Hierbei spielt immer der soziale Umgang eine Rolle. Wie äußere ich mein Bedürfnis, wie komme ich an eine Sache, die ich für mein Sandwich oder zum Kekse backen brauche? Zum Beispiel mussten die Kinder beim Sandwiches machen ihre Zutaten an einem imaginären Verkaufsstand besorgen und mit Papiergeld bezahlen. Beim Kekse backen wiederum bekam ein Kind alle Ausstechformen, ein anderes Kind das Nudelholz. Nun sollten die Kinder sich gegenseitig nach den benötigten Dingen fragen. Teilweise wird als visuelle Unterstützung sogar im Vorhinein von den Kollegen ein Video gedreht und die Situation nachgespielt, um den Kindern eine Idee zu geben, wie sie vorgehen können. Die Belohnung ist dann je nachdem der Muffin, das Keks oder das Sandwich.

Auch wenn die Arbeit in den Sozialisierungsgruppen wirklich interessant ist, tu ich mir doch sehr oft schwer, mich wirklich einzubringen und wäre gerne mehr involviert. Vor ca. einer Woche hat die letzte Einheit von Gruppen geendet und in einer Woche geht es dann mit neuen Gruppen weiter. Für die Zwischenzeit war geplant, dass ich kleineren Gruppen von Kindern verschiedene Aktivitäten anbiete, zum Beispiel Musik machen oder Basteln. Da uns nun ein Lockdown bis zum 15. November dazwischen gegrätscht kam, werden die neuen Socialisation Groups wohl online stattfinden. Ich treffe mich also kommende Woche aufgrund der Kontaktbeschränkungen immer mit einzelnen Kindern zum Musik machen, Basteln und Backen. Teilweise soll ich den Rest der Gruppe online mitnehmen. Beim Backen kann ich mir das ja noch vorstellen, aber beim Musik machen weiß ich nicht wie das funktionieren soll. Meine Chefin hat außerdem Kids zum Musik machen mit eingeplant, die ich noch gar nicht getroffen habe – macht die Vorbereitung natürlich nicht leichter. Nach meiner passiven Rolle als Teil der Socialisation Groups darf ich mich nun also endlich mehr einbringen, bin aber auch ziemlich auf mich alleine gestellt. Die ersten Versuche Musik zu machen und zu Basteln am Freitag waren jedoch ganz erfolgreich. Mal sehen wie es die nächsten Tage läuft! Am Samstag habe ich außerdem zum ersten Mal in einer Suppenküche für Bedürftige ausgeholfen, und bin auch weiterhin noch auf der Suche nach weiteren kleinen Projekten.

kulinārija
free time activity: selbst gemachte Knete

eksperiments

Das Meer und der Friedhof

Am Samstag war ein wunderschöner Oktobertag, und ich bin ans Meer geradelt.

Auf der Hinfahrt ist mir bereits ein Friedhof aufgefallen, an dem ich vorbei gefahren bin. Es war kein auffallend gut gepflegter Friedhof, das bunte Laub und einige frische Blumen auf den Gräbern schafften jedoch ein sehr schönes Bild. Da war aber noch irgendetwas anderes, was den Friedhof einladend machte… ich wusste nur nicht, was es war. Auf dem Rückweg hielt ich dann an, ließ meinen Blick nochmal über die Gräber streifen, und da fiel mir auf: es gab an fast jedem Grab eine kleine Bank. Ein Platz, um sich als Angehöriger „zu dem Verstorbenen“ zu setzen, vielleicht sogar mit einer Kanne Tee oder einem Buch – so stelle ich mir das zumindest vor. Ich weiß nicht, ob das nur für mich etwas Neues ist, aber ich hab das auf noch keinem Friedhof bisher gesehen. Es schaffte irgendwie eine besondere Atmosphäre und machte den Ort sehr einladend. Außerdem lieferten die verschiedenen kleinen Holzbänke und das bunte Laub einige schöne Motive wie ich finde, und so verbrachte ich noch einige Zeit mit meiner Kamera auf dem Friedhof mit den Bänken.

Latvia – Europe’s nation of introverts?

Nun liegen bereits vier Wochen in Lettland hinter mir. Trotzdem würde ich noch nicht behaupten, mich so richtig eingelebt zu haben, danke der Nachfrage! Das liegt nicht daran, dass ich mich nicht wohl fühle in meiner WG, oder dass ich mich nicht zurechtfinde in meinem jetzigen Alltag. Es liegt ganz einfach daran, dass ich bisher wenig Chancen hatte, Leute kennen zu lernen und Zeit mit Menschen zu verbringen. Zeit alleine verbringen ist toll, damit komme ich generell auch super zurecht. Doch es fühlt sich eben nur dann gut an, wenn man gleichermaßen genug Zeit in einer Gemeinschaft verbringt, in der man sich wohl fühlt. Das war mir natürlich bisher auch schon klar, doch ich glaube, es gerade ein bisschen am eigenen Leib zu erfahren. Mit einigen Bekanntschaften besteht aber durchaus Potenzial für neue Freundschaften, das wird also schon noch werden. Nicht sonderlich förderlich für meine Sozialisierung ist allerdings, dass eine dieser Bekanntschaften kurz nach meiner Ankunft beschloss, für mehrere Monate nach Frankreich zu gehen und die andere in einer Woche zu ihrem Freund nach Tel Aviv zieht.

Ein weiterer Grund, der das Ganze ein bisschen verlangsamt, ist vielleicht die lettische Zurückhaltung. Ein Stereotyp, das mir durchaus schon das ein oder andere Mal zu Ohren gekommen war, ich hatte allerdings nicht viel darauf gegeben. Doch in Situationen, in denen der Deutsche einen Schritt auf eine andere Person zu geht, macht der Lette einen Schritt zurück – so beschreibt es Schwester Hannah, die selber Deutsche ist und schon seit vielen Jahren in Lettland lebt. Und wenn ich so darüber nachdenke, trifft das für einige meiner Begegnungen tatsächlich zu. So hatte ich am Anfang Zweifel, ob bei uns in der WG überhaupt Interesse an einer Gemeinschaft besteht, vor allem was meine beiden lettischen Mitbewohnerinnen angeht. Je besser ich sie jedoch kenne lerne – was sehr sehr langsam geschieht, da wir uns fast nie über den Weg laufen und schon besagte Schritte zurück gemacht wurden (obwohl wir uns super verstehen) – desto mehr glaube ich, dass da schon Interesse besteht. Es kam nur noch keine auf die Idee, auch etwas dafür zu tun. Das liegt zudem daran, dass die Freiwilligen der vergangenen Jahre, die hier jeweils für einige Monate wohnten, wohl immer mindestens zu zweit waren und meistens lieber unter sich blieben. (Deshalb geht man ja auch für mehrere Monate in ein neues Land.)

Diesen Artikel zur lettischen Introversion finde ich sehr interessant. Anscheinend spielt die Kreativität eine wichtige Rolle für die nationale Identität der Letten, deshalb wird im lettischen Bildungssystem auch viel Wert auf Kreatives gelegt. Das Land verfügt zum Beispiel über einen der höchsten Anteile des Arbeitsmarktes für kreative Berufe in der EU. Die Kreativität wiederum steht laut einiger Studien in Zusammenhang mit der Präferenz des Alleinseins.

Sehr froh war ich, als ich vor ein paar Tagen erfuhr, dass wir den kargen Gemeinschaftsraum unserer WG neu einrichten und umgestalten, sowie die Bibliothek gemütlicher und wohnlicher machen dürfen. Das wird also definitiv ein baldiges Projekt, das uns alle hoffentlich ein bisschen näher zusammenbringen und mehr Raum für Gemeinschaft schaffen wird. Und vielleicht für die Kreativität meiner lettischen Mitbewohnerinnen, ich bin gespannt.

Pirmās dienas – erste Tage

Ich sitze am Schreibtisch, das Fenster vor mir steht offen. Wenn ich über den Rand meines Laptops hinausschaue, sehe ich den Regen auf das Fensterbrett sowie die Häuser und Bäume von Zemgale prasseln. Zemgales priekšpilsēta ist eine der drei Vorstädte Rigas, und hier befindet sich auch das Kloster St. Joseph, wo ich für die nächsten 12 Monate leben werde. Aus einem Haus eine Straße weiter klingt Musik herüber, die mich an Ratatouille erinnert – nur, dass statt Französisch Lettisch gesungen wird.

Meine Anreise am Freitag verlief reibungslos, allerdings beschloss die Lufthansa, meinen zweiten Koffer noch eine Nacht in Frankfurt zu behalten und ihn am nächsten Tag dafür direkt vor meine Haustür zu liefern. Glücklicherweise wurde der Koffer mit meinen Wintersachen einbehalten, und ich hatte meinen Waschbeutel und frische Klamotten für Samstag. In mein Handgepäck hatte ich nämlich einfach irgendwas reingepackt, nicht die Dinge, die ich dringend brauche… Ja, Mama, aber dir ist ja auch erst am Flughafen nach der Gepäckabgabe eingefallen, dass das sinnvoll gewesen wäre ❤ . Meine Zahnpasta hatte ich aus unerfindlichen Gründen im anderen Koffer, die musste ich mir also von meiner Mitbewohnerin Prisca holen, genauso wie einen Stift zum Verfassen meines ersten Tagebucheintrages.

Nachdem ich am Rigaer Flughafen geklärt hatte, wo mein zweiter Koffer abgeblieben ist, wurde ich von Father Jānis empfangen und durfte in seiner Kommunität mit zwei weiteren Jesuiten zu Mittag essen. Ich habe mich dort sofort wohl gefühlt. Genau wie die Jesuiten, die ich bisher kennen lernen durfte, waren es sehr nette und entspannte Menschen. Ivar brachte mich dann ins Kloster St. Joseph, wo mich Schwester Nellija empfing und mir mein Zimmer und das Haus zeigte. Auch wenn es sich um ein Kloster handelt, sieht es nicht wirklich so aus und fühlt sich auch nicht so an – zumindest nicht so, wie ich mir ein Kloster vorgestellt hätte. Im dritten Stock ist unsere WG, hier leben noch andere Studentinnen und eine weitere Freiwillige. Die Schwestern leben auch in einer WG zusammen und es gibt eine Kapelle im Haus, wo die Messen stattfinden. Die Jungs – zwei deutsche Freiwillige – wohnen gegenüber im Exerzitienhaus. Dort gibt es auch einen sehr schönen Garten, in dem wir uns ebenfalls aufhalten dürfen.

Morgenspaziergang zum Supermarkt

Der gestrige Tag war ja eigentlich mein erster, allerdings hatte ich kaum Zeit, anzukommen. Ich begleitete eine Gruppe von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu einem Tagesausflug nach Tērvete. Organisiert wurde das Ganze von Solis Augšup, eine Struktureinheit der NGO Nepaliec Viens (Meine Arbeit vor Ort). In Tērvete gibt es einen Naturpark mit Zoo, Hochseilgarten, Aussichtsturm und Märchendorf. Die Leute waren alle sehr nett und ich konnte mich mit den Jugendlichen sogar auf Englisch unterhalten, worüber ich sehr froh war. Die jüngeren Kinder sprechen natürlich noch nicht so gut Englisch, aber ein „Ka tevi sauc?“ – „Wie heißt du?“ hat auch schon gereicht, um nach anfänglicher Skepsis ein Lächeln hervorzuzaubern 🙂 . Hier lernt man in der Schule auch Deutsch, aber verständlicherweise wird sich lieber auf Englisch unterhalten. Ist ja auch weniger kompliziert!

Eins weiß ich jetzt auf jeden Fall: beim nächsten Mal, wenn ich in ein fremdes Land komme mit fremder Sprache und so vielen neuen Menschen, werde ich mir mehr Zeit nehmen, um anzukommen. Der Ausflug war schön, keine Frage! Aber bereits mittags hat die Müdigkeit mich übermannt und ich musste mich leider ein bisschen durch den Tag quälen, der mit Kopfschmerzen und totaler Erschöpfung endete. Umso schöner war es heute, auszuschlafen und Zeit zu haben, um meine letzten Sachen in die Schränke und Regale zu räumen. Wir Volunteers waren bei den Schwestern zum Mittagessen eingeladen und mit einer meiner Mitbewohnerinnen konnte ich auch ein bisschen quatschen. Fühle mich heute auf jeden Fall mehr angekommen! Morgen werde ich erfahren, wie mein Arbeitsalltag hier in Riga aussehen wird.

Und bis wir uns wieder sehen

Vor zwei Wochen fand unsere Aussendungsfeier statt, zu der wir Freiwillige unsere Freunde und Familien einladen durften. Die Gäste konnten die Jesuit Volunteers als Entsendeorganisation und das gesamte Team der Jesuitenmission kennenlernen. Im Anschluss gab es ein gemeinsames Mittagessen und bei einer Tasse Kaffee hatten wir die Chance, Eltern und Geschwister unserer Mitfreiwilligen kennen zu lernen.

wir tragen die Welt gemeinsam

Nach einem feierlichen Aussendungsgottesdienst voller Emotionen und lieber Segenswünsche war es schließlich an der Zeit, sich von unseren Mitfreiwilligen und Referentinnen zu verabschieden.

In ca. 5 Wochen reisen wir aus in unsere Einsatzländer. Während der intensiven gemeinsamen Vorbereitungszeit sind wir fünf sehr zusammen gewachsen und freuen uns schon jetzt auf das Rückkehrerseminar, bei dem wir uns alle wieder sehen. Aber das liegt noch in weiter Ferne, jetzt geht es erstmal endlich los.

Auf ein Jahr gutes Leben

auf der Dachterrasse der Jesuitenmission

Eine Sache, auf die unsere Referenten uns beim letzten Seminar aufmerksam gemacht haben, ist: euer Freiwilligendienst beginnt schon jetzt! Nicht bei der Ausreise, nicht erst vor Ort. Deshalb werde ich auch jetzt schon meinen ersten Eintrag veröffentlichen. Aber worüber soll man denn berichten, wenn man noch daheim sitzt?

Nun ja, abgesehen davon, dass ich in den nächsten Wochen vielleicht über meinen Erfolg oder Misserfolg beim Erlernen der lettischen Sprache berichten werde, gehört zu einem freiwilligen internationalen Jahr bei den Jesuit Volunteers eine umfangreiche allgemeine Vorbereitung. Nach einigen kürzeren online-Seminaren zu Themen wie Globalisierung, Konfliktbewältigung und Gerechtigkeit durften wir uns letzte Woche endlich wirklich treffen und kennenlernen. Im Mittelpunkt der sechs Seminartage stand das Thema Armut in Deutschland und weltweit. Wir wurden unter Anderem mit folgenden Fragen konfrontiert:

Was bedeutet Armut für dich?
Was macht ein gutes Leben aus?
Wie lebst du?
Was bedeutet Luxus für dich?

Die Beschäftigung mit diesen Fragen führt bei mir immer wieder zu neuem Bewusstsein und Dankbarkeit darüber, in welchem Luxus ich aufgewachsen bin, mit wie vielen Privilegien und wie wenigen Sorgen. Woran denkt ihr bei dem Wort Luxus? In erster Linie denke ich an teure Hotels mit großen Whirlpools. Doch kaum stellt mir jemand die Frage im Kontext der Armut, verwandelt sich der Begriff Luxus in meinem Kopf zu einer warmen Dusche, einer guten Tasse Kaffee am Morgen oder das Klavier, das in meinem Zimmer steht. Ich lebe doch also vollkommen im Luxus!

Lebe ich auch ein gutes Leben? Auf die Frage, was ein gutes Leben ausmacht, antworteten alle in unserer Gruppe, unabhängig voneinander, recht ähnlich. Sind die Grundbedürfnisse wie Hunger und Durst gestillt, geht es für uns um Familie und Freunde, um Gemeinschaft und Sicherheit. Auch um neue Erfahrungen und Eindrücke. Mindestens drei dieser Begriffe haben viel mit unserem Freiwilligendienst zu tun. Also: auf ein Jahr der Gemeinschaft, Erfahrungen und Eindrücke. Auf ein Jahr gutes Leben.