Latvia – Europe’s nation of introverts?

Nun liegen bereits vier Wochen in Lettland hinter mir. Trotzdem würde ich noch nicht behaupten, mich so richtig eingelebt zu haben, danke der Nachfrage! Das liegt nicht daran, dass ich mich nicht wohl fühle in meiner WG, oder dass ich mich nicht zurechtfinde in meinem jetzigen Alltag. Es liegt ganz einfach daran, dass ich bisher wenig Chancen hatte, Leute kennen zu lernen und Zeit mit Menschen zu verbringen. Zeit alleine verbringen ist toll, damit komme ich generell auch super zurecht. Doch es fühlt sich eben nur dann gut an, wenn man gleichermaßen genug Zeit in einer Gemeinschaft verbringt, in der man sich wohl fühlt. Das war mir natürlich bisher auch schon klar, doch ich glaube, es gerade ein bisschen am eigenen Leib zu erfahren. Mit einigen Bekanntschaften besteht aber durchaus Potenzial für neue Freundschaften, das wird also schon noch werden. Nicht sonderlich förderlich für meine Sozialisierung ist allerdings, dass eine dieser Bekanntschaften kurz nach meiner Ankunft beschloss, für mehrere Monate nach Frankreich zu gehen und die andere in einer Woche zu ihrem Freund nach Tel Aviv zieht.

Ein weiterer Grund, der das Ganze ein bisschen verlangsamt, ist vielleicht die lettische Zurückhaltung. Ein Stereotyp, das mir durchaus schon das ein oder andere Mal zu Ohren gekommen war, ich hatte allerdings nicht viel darauf gegeben. Doch in Situationen, in denen der Deutsche einen Schritt auf eine andere Person zu geht, macht der Lette einen Schritt zurück – so beschreibt es Schwester Hannah, die selber Deutsche ist und schon seit vielen Jahren in Lettland lebt. Und wenn ich so darüber nachdenke, trifft das für einige meiner Begegnungen tatsächlich zu. So hatte ich am Anfang Zweifel, ob bei uns in der WG überhaupt Interesse an einer Gemeinschaft besteht, vor allem was meine beiden lettischen Mitbewohnerinnen angeht. Je besser ich sie jedoch kenne lerne – was sehr sehr langsam geschieht, da wir uns fast nie über den Weg laufen und schon besagte Schritte zurück gemacht wurden (obwohl wir uns super verstehen) – desto mehr glaube ich, dass da schon Interesse besteht. Es kam nur noch keine auf die Idee, auch etwas dafür zu tun. Das liegt zudem daran, dass die Freiwilligen der vergangenen Jahre, die hier jeweils für einige Monate wohnten, wohl immer mindestens zu zweit waren und meistens lieber unter sich blieben. (Deshalb geht man ja auch für mehrere Monate in ein neues Land.)

Diesen Artikel zur lettischen Introversion finde ich sehr interessant. Anscheinend spielt die Kreativität eine wichtige Rolle für die nationale Identität der Letten, deshalb wird im lettischen Bildungssystem auch viel Wert auf Kreatives gelegt. Das Land verfügt zum Beispiel über einen der höchsten Anteile des Arbeitsmarktes für kreative Berufe in der EU. Die Kreativität wiederum steht laut einiger Studien in Zusammenhang mit der Präferenz des Alleinseins.

Sehr froh war ich, als ich vor ein paar Tagen erfuhr, dass wir den kargen Gemeinschaftsraum unserer WG neu einrichten und umgestalten, sowie die Bibliothek gemütlicher und wohnlicher machen dürfen. Das wird also definitiv ein baldiges Projekt, das uns alle hoffentlich ein bisschen näher zusammenbringen und mehr Raum für Gemeinschaft schaffen wird. Und vielleicht für die Kreativität meiner lettischen Mitbewohnerinnen, ich bin gespannt.

8 Gedanken zu “Latvia – Europe’s nation of introverts?

  1. Liebe Annika,
    ich bewundere hier wirklich deine „wissenschaftliche“ Rangehensweise 😉! Es ist keine einfache Sache, sich mit dieser so anderen Mentaliät auseinander zu setzen und sich unter diesen Umständen mit ihr und den Letten anzufreunden! Ich bin mir sicher, du wirst gute und wertvolle Freundschaften schließen! Ich wünsche dir hier von Herzen weiterhin das nötige Durchhaltevermögen! Behalte dir deinen so offenherzigen und liebevollen Blick auf deine Mitmenschen ☀️
    Mama

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  2. „Die Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, wenn wir ein Ziel zu erlangen trachten, sind der kürzeste Weg zu ihm“. Khalil Gibran (1883-1931)

    Liebe Annika,
    ich wünsche dir sehr, dass dieser Satz auch in deiner ganz persönlichen Situation Bestätigung erfährt und sich die (noch) vermeintlichen Hürden schnell umwandeln in neue Chancen und Möglichkeiten. Bitte vertraue auf dich und deinen „Auftrag“ vor Ort, du bist auf einem richtig guten Weg! Und habe Geduld mit dir und deiner Umwelt, auch wenns manchmal megaschwer fällt und die Hoffnung schwindet…
    Dir weiterhin viele kreative Ideen und Power, diese anzugehen und umzusetzen. Ich freue mich auf neue Berichte 🙂

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  3. Ich finde es so beeindruckend, wie reflektiert du auf die Situation blickst und uns auch einen guten Einblick in die “lettische Art” gibst! Sehr interessant, wie sich manche Stereotype doch bestätigen. Ich finde es sehr schön, dass du durch deinen Vorschlag frischen Wind in das Kloster bringst! Dadurch bringst du sicherlich einen Stein ins Rollen und es entsteht ein Raum, in dem sich alle wohlfühlen zusammen zu kommen 🙂
    Das wird noch! Vertraue darauf 🧡
    And remember: “Old ways won’t open new doors” (du bist also auf einem guten Weg
    Deine Eli 🌞

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  4. Liebe Annika,

    in meiner JV-Gruppe gab es einen Teilnehmer, der unmittelbar nach seinem Einsatz in Tansania zu einem weiteren in Bolivien aufbrach. Ich habe ihn nach seiner Rückkehr ganz vorsichtig (Achtung: Vorurteile!) nach Mentalitätsunterschieden gefragt. Er war auch zunächst zögerlich, doch dann kam er ins schier endlose Erzählen zu dem Thema. Fazit: Ich verstehe dich gut! LG

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  5. Liebe Annika,
    wie Du die Psyche Lettlands – bei aller Uneinheitlichkeit – ergründest, finde ich beeindruckend. Die Introversion würden sicher nicht alle, die von außen kommen, so leicht aushalten, aber Du bist jemand mit Beobachtungsgabe und langem Atem. Und jetzt, wo es so lange finster und neblig ist, kann ein wenig Rationalität als Unterlage nicht schaden. Aber halte immer nach Lichtblicken Ausschau!
    Hat Dir übrigens schon mal jemand gesagt, dass Du ganz tolle Fotos …, ach so, haben andere auch schon geschrieben; ja schau, es gibt sie noch, die Leute mit gutem Geschmack!
    Servus!
    Walter

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